31 Okt Rezensionen Herne_ Ensample_ Stück 02

Nichts bedeutet irgendetwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.
Pierre Anthon in „Nichts“ von Janne Teller

Acht Tänzer, Luca Henning, Caro Braun, Charlotte Kessen, Henning Schröder, Doreen Henkel und Elisa Czernik sowie mit Mathias Kowalk und Diana Richter zwei, die bereits bei Kama Frankls Debüt-Choreographie dabei waren, sitzen auf weißen Klappstühlen in einer ansonsten leergeräumten Spielfläche inmitten des u-förmig um diese herum platzierten Publikums. Joy Zondag und Rahel Steffen haben ihnen Strumpfhosen, Trikots und Pullis in hellen, fein abgestuften hautfarbenen Brauntönen verpasst.

„Nichts bedeutet irgendetwas…“: Während die Stimme von David Attenberger, der bei „Stück 01“ noch selbst mittanzte, aus einem knallroten Lautsprecher oberhalb des rechten Beleuchtermastes erklingt, er spricht das einleitende Motto des Romans „Nichts“ der inzwischen in New York und Berlin lebenden dänischen Autorin Janne Teller, bewegen sich die Tänzer auf ihren bald zusammenklappenden Stühlen immer hektischer, als sei gerade ein Wespenschwarum über sie hergefallen. Eine Tänzerin schreibt mittels einem von drei Overhead-Projektoren auf die aus weißem Leinen gebildete Rückwand drei kurze Sätze: „Er verließ die Schule. Wir anderen blieben. Aus uns soll ja noch was werden.“

Unter „Er“ ist Pierre Anthon gemeint. Der wie zwanzig andere 13- und 14-Jährige in die siebte Klasse einer fiktiven dänischen Kleinstadt geht in dem im Jahr 2.000 erschienenen Roman „Intet“ der 1964 in Kopenhagen geborenen Autorin Janne Teller. Nachdem Pierre Anthon erkannt hat, dass das Lernen ohne Bedeutung ist, schmeißt er am letzten Tag vor Ferienbeginn die Schule und hockt fortan in einem Pflaumenbaum. Den ganzen Sommer über und auch zu Beginn des neuen Schuljahres. Was seinen Klassenkameraden mächtig auf die Nerven geht.

„Wir waren gerade in die siebte Klasse gekommen“, so die Ich-Erzählerin Agnes, die das Geschehen in Janne Tellers Roman „Nichts“, der 2010 auf Deutsch mit dem Untertitel „Was im Leben wichtig ist“ erschien, mit einem zeitlichen Abstand von acht Jahren rückblickend schildert, „und wir fühlten uns alle so modern und kannten uns im Leben und in der Welt aus, und wir wussten natürlich längst, dass sich alles mehr darum drehte, wie etwas aussah, als wie es tatsächlich war. Unter allen Umständen war am wichtigsten, dass aus einem etwas wurde, das nach etwas aussah. Zwar hatten wir von diesem Etwas nur ungenaue Vorstellungen, aber es ging jedenfalls nicht darum, in einem Pflaumenbaum zu sitzen und Pflaumen auf die Straße zu werfen.“

Nachdem sie vergeblich versucht haben, Pierre Anthon mit Steinen vom Ast zu holen, wollen sie seiner nihilistischen Weltsicht etwas von Bedeutung entgegensetzen und ihn so letztlich Lügen strafen. In einem aufgelassenen Sägewerk am Stadtrand tragen sie persönliche Gegenstände zusammen: Jeder muss, auf Vorschlag eines anderen, etwas abgeben, das ihm besonders am Herzen liegt. Was harmlos beginnt mit Lieblingsbüchern, Angelrute und Fußball, afrikanischen Papageienohrringen und Sandalen schaukelt sich immer mehr zu einem geradezu monströsen Vorgehen hoch.

Denn jeder, der gerade etwas zum „Berg aus Bedeutung“ beigetragen hat, darf bestimmen, welchen Lieblingsgegenstand der nächste herausrücken muss. Und die eingeschworene Gemeinschaft achtet mit wachsendem Fanatismus darauf, das die die immer drastischeren Opfer auch eingelöst werden – vom Teleskop, auf das Maike zwei Jahre gespart hat, über Gerdas Hamster „Klein Oscar“ und Frederiks „Dannebrog“ genannte dänische Fahne bis hin zur Schlange in Formalin, die Henrik aus dem Biologiesaal der Schule stehlen muss und zum Gebetsteppich des gläubigen Muslim Hussein, der daraufhin von seinem Vater grün und blau geschlagen wird. Auch der fromme Christ Kai, der die Jesus-Statue aus der Kirche stehlen muss, leidet seelische und körperliche Qualen, die freilich nichts sind gegen Sofies offenbar im Kollektiv erzwungenen Verlust ihrer Unschuld und Jan-Johans Opferung eines Fingers seiner rechten Hand. Von anderen horriblen Beiträgen zum „Berg aus Bedeutung“ wie der Exhumierung einer Kinderleiche oder der Enthauptung eines Hundes ganz abgesehen.

Agnes ungerührt im 17. von insgesamt 26 Kapiteln des nur 140seitigen Romans, der mit seinen, ich kann es nicht anders ausdrücken, ekelhaften Detailschilderungen nicht in Kinderhände gehört, was offenbar keine öffentliche Bücherei im Revier schert: „Das, was geschehen sollte, war ein notwendiges Opfer in unserem Kampf für die Bedeutung. Alle mussten ihren Teil beitragen. Wir hatten unseren beigetragen. Jetzt war Jan-Johan an der Reihe. So schlimm war es doch wohl nicht.“ Am Ende wird das Projekt verraten, wird die Polizei auf den Plan gerufen und ein weltweiter Medienrummel setzt ein. Kunsthistoriker drücken sich die Nase platt und ein New Yorker Museum bietet 3,5 Millionen Dollar für das inzwischen aasig gen Himmel stinkende Environment.

Nur Pierre Anthon bleibt von alldem unbeeindruckt: „Alles ist egal. Es gibt nichts, was irgendwas bedeutet. Auch nicht euer Haufen Gerümpel.“ Die Klasse rächt sich blutig an ihm…

„Nichts“, die erschütternde, zunächst in Skandinavien über mehrere Jahre verbotene und dann vielfach international ausgezeichnete Parabel über das Erwachsenwerden, über Erziehung und letztlich nicht weniger als über den Sinn des Lebens, ist 2011 vom Südwestrundfunk als Hörspiel adaptiert worden, bevor die Dramatisierung „Nichts: Was im Leben wichtig ist“ von Andreas Erdmann am 13. Oktober 2011 als Deutschsprachige Erstaufführung in einer Inszenierung von Marco Storman am Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere feierte.

Nun also, als „Stück 02“ des Herner Tanztheaters Ensample, eine Choreographie von Kama Frankl, die am 28. Oktober 2016 in der Aula der Realschule Crange unter großem Beifall eines freilich offenbar gänzlich ratlosen Publikums uraufgeführt worden ist. Ja, das ist so wie am der Herner Uraufführung folgenden Abend in der Dortmunder Oper bei Xin Peng Wangs Handlungsballett „Faust II – Erlösung“: die Kenntnis der literarischen Vorlage ist nicht unbedingt nötig für den rein ästhetischen Genuss, trägt aber nicht unwesentlich zum Verständnis bei.

Kama Frankl hat sich dem Stoff in erster Linie assoziativ genähert. Ihre achtköpfige Compagnie offenbart zu Marcus Brockmeiers Beats aus dem Off gruppendynamisches Klassenverhalten aus Anziehung und Abstoßung: Soli und Pas de deux lösen sich mit dynamischen Pas de trois und Gruppenchoreographien ab, weitere Weisheiten Pierre Anthons, der hier sinnbildlich im Kollektiv bespuckt statt mit Steinen beworfen wird, kommen mit der Stimme David Attenbergers aus dem Lautsprecher.

Der Beleuchtermast darunter mutiert im Lauf des knapp einstündigen Abends zum „Berg aus Bedeutung“ und wir sind dankbar dafür, dass am Ende weder ein Marterlkreuz zwischen seinen Streben hängt noch der abgetrennte blutige Kopf des „Aschenputtel“ genannten Vierbeiners. Beide tauchen auch nicht auf einer heute zumeist unverzichtbaren Videowand auf, auch dafür ein herzliches Dankeschön. Die Leinwand wird lediglich mit erläuternden Texten („Wir müssen ihm eben beweisen, dass es etwas gibt, was etwas bedeutet“) mittels der Overheadprojektoren bestückt – und das Gestänge mit Bekleidungsstücken der Tänzer.

Die mit besagtem Mast kommunizieren wie mit dem Pflaumenbaum, die den „Wahrheiten“ aus dem roten Lautsprecher mit einem lauten Schrei aus acht Kehlen begegnen und sich in ihrer Hilflosigkeit im Publikum umblicken. Doch dann wischt ein Tänzer alle Vorschläge auf den Folien weg – und präsentiert einen eigenen. Narzißtisch von sich selbst überzeugt, aber im nächsten Moment versuchend, die anderen einzubinden, mitzunehmen. Die ihm laut schlagend ihren (Klapp-) Stuhl entgegenrammen, bevor sie sich zu einer virtuosen „Reise nach Jerusalem“ formieren. Wer fröhlich aus der Reihe tanzt, wird eingefangen und auf den Boden der kollektiven Tatsachen zurückgeholt, was sich beim Musik-Einsatz wiederholt: die klare, universelle Bildsprache Kama Frankls weist über den Tellerrand der Vorlage hinaus.

„Es ist an der Zeit, dass wir die Geschichte mit der Bedeutung zu Ende bringen“: Was nicht ohne Gewalt über die Cranger Bühne geht. Mit einer besonderen finalen Akzentuierung der Choreographin: Ein männliches „Opfer“ wehrt sich so vehement, dass wie bisher die Gruppe einschreiten müsste, um das Projekt in gewohnter Weise durchzuziehen. Als die Intervention ausbleibt, legt der Tänzer sein Kleidungsstück freiwillig ab. Was niemanden beruhigt, sondern im Gegenteil alle erregt, zumal Pierre Anthons Relativierung von Bedeutung des Individuums angesichts der Milliarden-Bevölkerung der Erde nun mantrahaft als Loop aus dem Off schallt: alle fallen übereinander her und am Ende bleiben nur zerbrochene Stühle auf einem Haufen zurück.

Nach zwei so gut wie ausverkauften Vorstellungen in Crange ist „Stück 02“ wieder am 16. Dezember 2016 im Rahmen des Festivals „Dynamo – Junge Tanzplattform NRW“ im Pact-Zentrum auf Zollverein in Essen sowie am 20. Januar 2017 in der Bochumer Pottporus/Renegade-Spielstätte „Zeche 1“ zu sehen.

Pitt Herrmann

Quelle: http://www.sn-herne.de/index.php?cmd=article&aid=9524